Gesicht eines alten Mannes, der ein Vergößerungsglas nutzt

Guter Rat ist teuer

Mark Twa­in soll ein­mal gesagt haben: “Das Ein­zi­ge, was man mit einem guten Rat­schlag tun kann ist ihn wei­ter­zu­ge­ben.” Auch wenn die­se Aus­sa­ge viel Iro­nie in sich birgt, nei­ge ich dazu ihm zuzu­stim­men. Ger­ne möch­te ich ver­su­chen, mit Ihnen zu tei­len warum.

Dabei soll­te man viel­leicht dif­fe­ren­zie­ren zwi­schen fach­li­chen Rat­schlä­gen und allen ande­ren. Fach­li­che Rat­schlä­ge, z.B. von einem Exper­ten an einen Lai­en sind in man­chen Situa­tio­nen sicher­lich ver­nünf­tig und erwünscht, wenn auch nicht immer ver­ständ­lich oder sinn­voll (aber das ist eine ande­re Sto­ry….). Also zurück zum Thema.

“Lass mal stecken”

Ken­nen Sie das? Sie sit­zen mit einem Bekann­ten gemüt­lich abends zusam­men, man lacht und plau­dert und viel­leicht erzäh­len Sie etwas von einer aktu­el­len Her­aus­for­de­rung in Ihrem Leben oder von etwas, womit Sie sich schwer tun. Und plötz­lich wird er auf den Tisch geknallt – ein guter Rat­schlag. Da liegt er nun mit­ten auf dem Tisch und Sie wis­sen ein­fach nicht, was Sie damit anfan­gen sol­len. Neh­men Sie ihn an, wür­den Sie dem ande­ren zuge­ste­hen, dass er so ganz aus der Hüf­te geschos­sen eine Lösung hat für ein Pro­blem, an dem Sie viel­leicht schon län­ger knab­bern. Oder dass er womög­lich bes­ser weiß, was in Ihrem Leben ange­sagt ist als Sie selbst. Regt sich da ein klei­ner Wider­stand? Ja genau.

Wenn Sie den Rat nicht anneh­men und sagen “Ne du, lass mal stecken” ris­kie­ren Sie, dass Ihr Gegen­über sich zurück­ge­wie­sen fühlt oder Sie Hoheits­be­lei­di­gung bege­hen. Und schon sit­zen bei­de Kro­nen schief und die Stim­mung ist angeknackst.

Nun denn, war­um könn­te es uns mit einem guten und sicher­lich gut gemein­ten Rat so gehen wie oben beschrieben?

1. Er kommt ungefragt

Wir sind Erden­bür­ger einer schnellebi­gen Zeit, die Geduld ist eine Tugend, deren Mei­ster­schaft weit unten auf der Prio­ri­tä­ten­li­ste steht und vor allem im Schwa­ben­länd­le wird sel­ten gelobt und geprie­sen und unser Genie bleibt dadurch unge­wür­digt. Das heißt, sobald unse­re uner­kann­te Kom­pe­tenz und unse­rer Weis­heit letz­ter Schluß gefragt sein könn­te, sprin­gen wir in die Bre­sche. Schließ­lich will man auch hilf­reich sein. Und gelobt wer­den (end­lich!) für den wert­vol­len Bei­trag. Wer hat da Ruhe zu war­ten bis er um sei­ne Mei­nung gefragt wird?

2. Er kommt “von oben herab”

Ent­wick­lungs­ge­schicht­lich bekommt man einen guten Rat am ehe­sten von jeman­dem, der älter, erfah­re­ner, klü­ger, hier­ar­chisch wei­ter oben ange­sie­delt oder wei­ser ist als man selbst. Oder von den eige­nen Eltern. Das bedeu­tet, der­je­ni­ge, der den Rat­schlag bekommt, wird in die Lage eines Kin­des, Grün­schna­bels, Unter­ge­be­nen oder Nichts­blickers ver­setzt. Beque­mer Stuhl? Ich glau­be nicht. Ver­ständ­lich, dass man sich in die­sen nicht so ger­ne set­zen möch­te, denn wir sind sel­ber groß, und wis­sen auch etwas, wenn viel­leicht auch nicht alles, was der ande­re weiß (und das ist sowie­so immer so).

3. Wir wünschen uns Autonomie

Der wich­tig­ste Teil des Erwach­sen­wer­dens ist es, die Ver­ant­wor­tung für unser Leben in unse­re eige­nen Hän­de zu neh­men und selbst zu ent­schei­den, was wir nun mit die­sem groß­ar­ti­gen und groß­zü­gi­gen Geschenk anfan­gen möch­ten. Auch wenn das Leben gar nicht so ein­fach ist, ist es ganz allein unse­res. Und wie soll man denn ler­nen, auf sich selbst zu hören, sich zu erpro­ben und zu ver­trau­en und zu wach­sen, wenn man jedem Daher­ge­lau­fe­nen erlaubt, uns unse­re Ent­schei­dun­gen abzu­neh­men. Wir wol­len unse­re Unab­hän­gig­keit bewah­ren und selbst ent­schei­den, und das ist auch gut so, denn wer ist denn der größ­te Exper­te für Ihr Leben, wenn nicht Sie?

4. Wir wollen auf unsere eigene Kompetenz vertrauen

Wir sind hier auf Erden, um zu wach­sen und zu ler­nen, was man an jedem Kind sehr gut beob­ach­ten kann. Dabei wei­ten wir Schritt für Schritt unser Wis­sen, unser Kön­nen, unse­re Erfah­rung, unse­re Intui­ti­on usw. aus. Wozu? Na, damit wir es anwen­den kön­nen. Wir möch­ten tun, was wir kön­nen und dar­auf ver­trau­en, dass wir es best­mög­lich tun und unse­re Hand­lungs­frei­heit nut­zen. Den Kom­pe­ten­zen ande­rer zu ver­trau­en ist gut, aber der eige­nen Kom­pe­tenz zu ver­trau­en fühlt sich noch bes­ser an. (Am besten fühlt es sich an, wenn wir bei Gele­gen­heit auch noch dafür gelobt wer­den, aber na ja wir leben im Schwabenländle….).

5. Wir hören nicht genau zu

Bevor wir einen Rat geben, ist es sinn­voll erst mal genau hin­zu­hö­ren. Wor­um geht es mei­nem Gegen­über über­haupt? Möch­te er oder sie über­haupt etwas ändern? Viel­leicht möch­te man ein­fach sei­ne Geschich­te erzäh­len, es mal aus­spre­chen und nur ein offe­nes Ohr? Viel­leicht besteht über­haupt kein Hand­lungs­be­darf? Viel­leicht erzählt Ihnen jemand etwas, ein­fach um etwas von sich preis­zu­ge­ben und dadurch Nähe zuzu­las­sen, Ihnen die Hand zu rei­chen, Sie zu ermu­ti­gen auch etwas von sich selbst zu erzäh­len, Raum zu schaf­fen, um sich bes­ser ken­nen­zu­ler­nen, sich gegen­sei­tig sei­ne Mensch­lich­keit zei­gen? Es gibt sehr vie­le Mög­lich­kei­ten und wenn wir vor­schnell unse­ren gut gemein­ten Senf zur Cur­ry­wurst des Lebens abge­ben, passt das viel­leicht nicht, weil Ketch­up erwünscht ist. Zuhö­ren lohnt sich.

6. Wir fragen nicht nach

Ein Mensch erzählt uns etwas von sei­nem Leben und häu­fig zie­hen wir vor­ei­li­ge Schlüs­se und bil­den uns eine unmit­tel­ba­re Mei­nung ohne nach­zu­fra­gen (die Eng­län­der sagen dazu “jump to con­clu­si­ons”, was es noch bes­ser trifft und im über­tra­ge­nen Sin­ne “zu einem Ergeb­nis sprin­gen” bedeu­tet). Dabei haben wir viel­leicht noch gar nichts ver­stan­den. Es könn­te mir zum Bei­spiel jemand sagen: “ich wün­sche mir mehr Frei­heit” und ich könn­te mei­nen, ich hät­te ihn ver­stan­den. Aber was genau ver­steht er oder sie unter “Frei­heit”? In wel­chem Bereich wünscht er oder sie sich mehr Frei­heit? Was erhofft sie sich davon? Was genau schränkt die­se Frei­heit aktu­ell ein? Sind das Fak­to­ren, die sich beein­flus­sen las­sen? Wie sehr lei­det sie unter die­ser Ein­schrän­kung? Und so wei­ter.

Oder um ein Bei­spiel zu geben, das näher am The­ma ist – ein Freund erzählt uns, er hat aktu­ell ein Pro­blem. Dann schluss­fol­gern wir viel­leicht, er möch­te einen guten Rat. Dabei ver­säu­men wir ihn zu FRAGEN, was er jetzt möch­te oder braucht. Viel­leicht ist die Ant­wort ja statt­des­sen eine Umar­mung, einen Abend, an dem ich das ver­ges­sen kann, Ablen­kung, einen guten Witz, eine durch­zech­te Nacht, dei­ne Gebe­te, ein Lächeln….. Es gibt so vie­le Mög­lich­kei­ten wie es Men­schen gibt, denn jeder ist anders und ein­zig­ar­tig. Und wir wür­di­gen die­se Ein­zig­ar­tig­keit, wenn wir den ande­ren in sei­nem So-sein anspre­chen und nach­fra­gen. Denn er oder sie hat sein Leben ja bis jetzt erfolg­reich gelebt und weiß am besten, was ihm gut­tut und was hilf­reich ist.

Wie teuer ist ein guter Rat?

Viel­leicht ist mit dem Sprich­wort “guter Rat ist teu­er” gemeint, dass ein Preis­schild dar­an hängt, und es etwas kostet, einen guten Rat zu geben und zu bekom­men. Die­ses Preis­schild könn­te es sein, den ande­ren nicht ver­stan­den zu haben, weil wir nicht nach­fra­gen; ihn nicht gewür­digt zu haben, weil wir nicht genau zuhö­ren; ihm sei­ne Kom­pe­ten­zen abzu­spre­chen, weil wir den­ken es bes­ser zu wis­sen; ihn für unmün­dig zu hal­ten, weil wir älter oder erfah­re­ner sind; ihn mit unse­rer Unge­duld in die Ecke zu drän­gen; ihm einen Rat zu geben, den er eigent­lich gar nicht haben will; sich zurück­ge­wie­sen zu füh­len, weil der Rat nicht ange­nom­men wird; in den Wind geschrie­ben zu wer­den, weil wir uner­be­te­ne Rat­schlä­ge ver­tei­len. Die­se Liste lie­ße sich sicher­lich noch fortführen.

Ein unlösbares Dilemma? 

Sicher nicht. Erstens glau­be ich dar­an, dass es immer Lösun­gen gibt und wir für Lösun­gen auf der Welt sind und nicht für Pro­ble­me. Und zwei­tens gibt es die Syste­mik. Sie ist nicht der Weis­heit letz­ter Schluss (wenn auch nah dran :)), hat sich aber in vie­len Lebens­la­gen als wirk­lich hilf­reich erwie­sen. Die oben genann­ten Grün­de sind nicht die ein­zi­gen, aber eini­ge wich­ti­ge, wes­halb man in der syste­mi­schen Bera­tung und The­ra­pie auf die Kom­pe­tenz des Kli­en­ten setzt und davon über­zeugt ist, dass jeder sei­ne eige­nen Lösun­gen in sich trägt. Man lenkt den Blick auf vor­han­de­ne Res­sour­cen und Kom­pe­ten­zen, um her­aus­zu­fin­den, wie sich die­se für eine Lösung ein­set­zen las­sen und spricht den Kli­en­ten in sei­ner Kom­pe­tenz an. Man för­dert die Auto­no­mie, weil die selbst getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen am ehe­sten umge­setzt wer­den und kei­nen inne­ren Wider­stand erzeu­gen. Man fragt sehr genau und neu­gie­rig nach, wor­um es dem Kli­en­ten geht, um ziel­ge­rich­tet arbei­ten zu kön­nen. Man stellt vie­le Fra­gen. Und skan­da­lö­ser wei­se lobt man die Men­schen auch für all das, was sie bereits gelei­stet, aus­ge­hal­ten, über­stan­den und bewäl­tigt haben – und das selbst im Schwa­ben­länd­le. Kaum zu fas­sen.
Und da die Lösung des Kli­en­ten erar­bei­tet wird, gibt man kei­ne Rat­schlä­ge – außer man wird ganz expli­zit danach gefragt!

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